Wie können wir Überlebensprogramme unseres autonomen Nervensystems (ANS), die uns belasten, loswerden? Zunächst ist es wichtig zu erkennen, dass diese heute lästigen Prozesse früher einmal überlebenswichtig waren, und wir im Grunde froh sein können, dass es sie gibt. Außerdem sind diese Programme fest „verdrahtet“, wir können sie nicht einfach loswerden. Es ist auch gut, wenn sie uns weiterhin zur Verfügung stehen. Es kommt vielmehr darauf an, sie so zu regulieren, dass sie der jeweiligen Situation angemessen sind. Leiden entsteht erst dann, wenn die Überlebensprogramme eben nicht der Situation angepasst sind.
Dazu ein Beispiel: Angenommen ein kleines Kind wird regelmäßig durch seinen zornigen und alkoholisierten Vater gezüchtigt. Da für das Kind weder Flucht noch Angriff in Frage kommen, reagiert sein autonomes Nervensystem mit dem Erstarrungsreflex. Das Kind rührt sich nicht von der Stelle. Dieser Reflex tritt in Notlagen immer wieder auf. Er wird unbewusst zu einem festen Muster, das auch im Erwachsenenalter in Situationen ausgelöst wird, die als Gefahr wahrgenommen werden. Sich im Erwachsenenalter nicht von der Stelle rühren zu können, ist oft keine kluge Strategie. Ich denke da z.B. an das Blackout während einer mündlichen Prüfung.
Für das weitere Verständnis lassen Sie uns vereinbaren, Veränderungen in der Psyche und im Nervensystem als „Lernen“ zu bezeichnen. Wir differenzieren dabei drei unterschiedliche Lernprozesse, die auch unterschiedlichen anatomischen Strukturen des Nervensystems zugeordnet werden können.
Dass diese Strategie nicht immer funktioniert, haben wir bei unserem Spinnen – Phobiker gesehen. Er rast weiterhin mit hoher Geschwindigkeit auf der Autobahn dahin, obwohl wir ihm nachweisen konnten, dass Rasen hunderttausendfach mal gefährlicher als eine kleine Spinne auf der Haut ist.
Unser Spinnen – Phobiker wird geblitzt und bekommt einen Strafzettel. Diese verhaltenspsychologische Maßnahme hat nur eine kurze Wirkung - nach wenigen Tagen kehrt der Raser wieder zu seinem ursprünglichen Verhalten zurück.
Wenn zwei Prozesse mehrfach gleichzeitig ablaufen, stellt unser Autonomes Nervensystem eine fest „verdrahtete“ Verbindung zwischen den beiden her. Das ist die unterste und älteste Stufe des Lernens. Es ist eine wirksame Möglichkeit unser autonomes Nervensystem zu regulieren.
Der russische Mediziner Iwan Petrowitsch Pawlow (1841 – 1936) hielt einem Hund ein Stück leckeres Fleisch vor die Nase. Erwartungsgemäß fing der Hund an, Speichel zu produzieren. Der Forscher wiederholte diesen Vorgang mehrfach und läutete jedes Mal, wenn er dem Hund das Fleisch vor die Nase hielt, mit einem Glöckchen. Nach einer gewissen Zeit konnte er allein durch Läuten des Glöckchens den Speichelfluss auslösen. Das autonome Nervensystem hat eine feste Verbindung zwischen dem Kang der Glocke und der Speichelproduktion hergestellt. Unsere Strategie für die Beeinflussung unseres autonomen Nervensystems ist also das Lernen durch Gleichzeitigkeit. Und unsere Aufgabe besteht darin, zwei Prozesse miteinander zu verknüpfen. Welche Prozesse könnten das sein?
Welche Signale vermitteln dem autonomen Nervensystem das Gefühl von Sicherheit? Bei der Suche nach Antworten spielt das Ohr eine zentrale Rolle. Im Gegensatz zum Auge, das im Schlaf geschlossen wird, dann also keine Signale aufnimmt, kann das Ohr nicht geschlossen werden. Es ist 7 Tage 24 Stunden auf Empfang. Das Ohr kann rund um die Uhr Signale empfangen, die auf Gefahr oder gar Lebensgefahr hinweisen. Das sind meist tiefe Frequenzen wie das Brüllen eines Löwen. Es kann aber auch Signale empfangen, die uns in Sicherheit wiegen. Beispiel dafür ist eine Mutter, die ihr Baby mit ihrer Stimme besänftigt und liebkost. Das Baby hört nicht, was die Mutter sagt, sondern ausschließlich wie sie es sagt. Allein durch die mütterliche Stimme fühlt es sich sicher und geborgen. Im Safe and Sound Protocol wird dieser Prozess auf eine ziemlich clevere Weise genutzt. Die Mutter wird dabei durch Musik ersetzt. Diese Musik ist mit einem speziellen Programm bearbeitet. Tiefe Frequenzen, die auf Gefahr hinweisen, werden reduziert. Mittlere Frequenzen, wie sie bei der Stimme der besänftigenden Mutter vorkommen, werden angehoben. Kaum zu glauben – allein durch das Anhören von Musik empfängt das autonome Nervensystem über das Ohr Signale der Sicherheit. Jetzt fehlt uns nur noch der zweite parallele Prozess.
Die ausgewogene Regulierung des autonomen Nervensystems ist ein grundlegendes Anliegen der Polyvagal-Theorie. Dabei unterscheiden wir die Selbst-Regulierung - die Beziehung zu sich selbst und die Co–Regulierung - die Beziehungen zu anderen. Bei der Co-Regulierung muss mindestens ein weiterer Mensch beteiligt sein. Wie schon erwähnt, sind wir soziale Wesen, bei denen die Co-Regulierung weit wichtiger und effektiver ist als die Selbst-Regulierung. Wenn wir leiden, sind wir meist nicht in Beziehung zu unseren Mitmenschen. Wir sind dann isoliert und einsam. Aus Sicht der Polyvagal-Theorie haben wir uns damit von einer wichtigen Ressource für Heilung abgeschnitten, nämlich von unserem sozialen Netzwerk. Ziel des Safe and Sound Protocol ist es, die beiden Aspekte „Sicherheit“ und „Beziehung“ wieder miteinander zu verknüpfen, um dem Menschen wieder Zugang zu seiner wichtigsten Ressource, seinen zwischenmenschlichen Beziehungen, zu ermöglichen. Vor der Safe and Sound Protocol-Anwendung galt im autonomen Nervensystem beispielsweise die Regel: „Beziehung = Gefahr“. Nach einer erfolgreichen Anwendung lautet die neue Regel idealerweise „Beziehung = Sicherheit“.
Im günstigsten Fall ist, während Sie die Musik hören, eine Therapeutin anwesend. Sie übernimmt für die Dauer des Zuhörens die Rolle einer Beziehungspartnerin, der sie vertrauen, und die das Gefühl der Sicherheit vermittelt. Das Safe and Sound Protocol umfasst insgesamt 5 Stunden Musik, die in kleinen Sequenzen von 10 bis 30 Minuten angehört werden. Für diese vielen kleinen Sessions Termine mit einer Therapeutin zu vereinbaren, ist aufwendig und macht den Zugriff auf das SSP nur für wenige Menschen möglich.
Unser Ansatz: Die Bedingung „Anwesenheit einer vertrauten Person“ lässt sich über die Vorstellung eines sicheren Ortes und der Anwesenheit sicherer Personen erfüllen. Die meisten Menschen haben die Fähigkeit, sich Personen und Situationen mit allen Sinnen so vorzustellen, als wären sie real. So können Sie sich eine Begebenheit bildhaft ausmalen, sich dann in dieses Bild hineinversetzen und sich so fühlen, als wäre die Situation Wirklichkeit. Versuchen Sie es! Stellen Sie sich eine freudige Situation vor (z.B. ein Naturerlebnis im Urlaub), die Sie mit einer geliebten Person gemeinsam erleben. Sie werden feststellen, dass Sie so fühlen, als wäre die Situation real und die Person anwesend. Das Erstaunliche daran ist, dass unser autonomes Nervensystem nicht unterscheiden kann, ob ein Gefühl durch eine reale Situation oder durch reine Imagination ausgelöst wurde. Diese Tatsache machen wir uns bei der Anwendung des Safe and Sound Protocol zunutze.
Mit diesen Informationen sind Sie bestens auf die erste Session vorbereitet.