Unser menschliches Nervensystem ist das Ergebnis einer sehr langen Entwicklungsgeschichte. Dabei wird nicht eine alte Version des Systems entfernt und durch eine neue ersetzt, sondern alle Vorgängerversionen bleiben erhalten und wirken noch in uns, so, wie vor Millionen von Jahren. Dabei gilt die Regel: die ältere Version überstimmt die jüngere Version des Nervensystems.
Der jüngste Sprössling ist das so genannte somatische oder auch willkürliche Nervensystem. Es ermöglicht uns unter anderem das reflexive Bewusstsein, das Denken, die Vernunft und das absichtsvolle Handeln. Dieser Neuling legt eine gewisse Arroganz an den Tag, in dem er sich für den wichtigsten Part der menschlichen Existenz hält. Descartes Aussage: „Ich denke, also bin ich!“ bringt diese Einstellung auf den Punkt. Jedes Problem, so glaubt der Denker in uns, könne durch richtiges Denken gelöst werden. Inzwischen wird es immer klarer, dass der Kopf doch nicht alles unter Kontrolle hat.
Die älteren Teile unseres Nervensystems sind für unsere physische und mentale Gesundheit weit wichtiger als bisher angenommen. Sie werden unter dem Begriff autonomes Nervensystem zusammengefasst. Seine wichtigste Aufgabe besteht in der Regulation der elementaren Vitalfunktionen und dem Sichern unseres Überlebens. Alle Sinneseindrücke werden von diesem System fortlaufend daraufhin überprüft, ob Gefahr im Verzuge ist. Für den Fall einer Bedrohung hat das autonome Nervensystem unterschiedliche Routinen parat, auf die wir später noch zu sprechen kommen. Sicherheit ist sein oberstes Ziel. Dabei ist Sicherheit keine objektive Größe - Sicherheit ist in diesem Sinne eine aktuelle Empfindung, ein Gefühl, eine subjektive Erfahrung.
Dazu ein Beispiel: Angenommen ein Mensch leide unter einer Spinnenphobie. Er beobachtet, wie eine Spinne über seine Haut läuft. Im Bruchteil von Sekunden bewertet das autonome Nervensystem die Situation als lebensbedrohlich und schlägt Alarm. Es werden alle Maßnahmen getroffen, um einen übermächtigen Gegner zu bekämpfen oder vor ihm zu fliehen. Dieselbe Person rast am selben Tag mit 200 km/h über die Autobahn und das autonome Nervensystem rührt sich nicht, es wiegt sich in Sicherheit. Dabei gab es Jahre 2023 im deutschen Straßenverkehr 366.600 Verletzte und 2893 Tote. Leider nützt es gar nichts, dem Betroffenen diesen Sachverhalt zu erklären. Weder verschwindet seine Spinnenphobie, noch hört er auf zu rasen. Hier greift die Regel: ältere Version überstimmt jüngere Version.
Das autonome Nervensystem ist eine Ansammlung von lebenserhaltenden Regulationsprogrammen, die ohne unser Zutun, also selbstständig, automatisch oder autonom ablaufen. Die allermeisten davon sind uns nicht einmal bewusst. Bis auf wenige Ausnahmen funktioniert das System perfekt. Die Spinnenphobie ist eine solche Ausnahme. Obwohl die Gefahr gleich Null ist, startet das autonome Nervensystem ein Überlebensprogramm. Irgendwann in unserer Entwicklungsgeschichte war es vielleicht überlebenswichtig, sich vor Spinnenbissen zu schützen. Ein anderes Beispiel für eine unangemessene Reaktion des autonomen Nervensystems sind die Folgen so genannter Traumata. Mit Traumata sind psychische Ausnahmesituationen gemeint. Sie werden durch Ereignisse ausgelöst, die eine Bedrohung für das Leben oder die körperliche Unversehrtheit des Betroffenen oder einer nahestehenden Person darstellen. Bei traumatisierten Menschen genügt ein kleiner Reiz, um das ganze System in helle Aufruhr zu versetzen. So stellt sich die Frage, ob und wie wir willentlich auf das autonome Nervensystem Einfluss nehmen können, um solche Fehlregulationen zu beheben. Wie wir bei der Spinnenphobie gesehen haben, reagiert das System nicht auf sprachliche Botschaften - es spricht kein Deutsch. Aber welche Sprache spricht es dann?
Es gibt einige wenige autonome Vorgänge, die wir direkt willentlich beeinflussen können. Ein Beispiel dafür ist die Atmung. Wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf die Atmung richten, können wir sie bewusst verlangsamen, vertiefen, anhalten usw. Sobald wir der Atmung unsere Aufmerksamkeit wieder entziehen, übernimmt das autonome Nervensystem wieder die Steuerung. So kann das bewusste Atmen eine mögliche Einflussnahme sein, um das System während einer Fehlregulation zu beruhigen. Die Sprache des autonomen Nervensystems sind Sinnesempfindungen. Das System hört nicht was gesagt wird, sondern wie es gesagt wird. Dabei prüft es jedes von außen kommendem Signal, ob eine Gefahr oder gar Lebensgefahr vorliegt. Via Empfindungen sendet das autonome Nervensystem an unseren Denker und via Empfindungen kann das System auch beeinflusst werden.
Eine weitere Besonderheit des autonomen Nervensystems ist die Steuerung der Wahrnehmung. Wenn im System das Gefühl von Sicherheit vorherrscht, dann sucht es in allen Sinneswahrnehmungen nach Bestätigung dieser Emotion und findet sie auch. Herrscht im System jedoch das Gefühl von Gefahr vor, dann sucht es in allen Sinneswahrnehmungen nach Bestätigung für die Gefahr und findet sie auch.